auch schlafen ist eine form der kritik

»Wie dumm die waren -!«

In solch goldenen Kutschen sind sie nun gefahren: wie im Märchen. Jeder hat gleich sehen können, wer da König im Lande gewesen ist – jeder hat es sehen sollen.
Heute ist das ganz anders.
Der Mächtigste sitzt im Fond seines großen Wagens, und niemand sieht ihn. Der Wagen ist besonders elegant, eine gute Marke; auf der dunklen Tür stehn ein paar kleine Buchstaben, das ist alles. Der drin sitzt, kontrolliert vielleicht den Petroleumbedarf der halben Welt, aber eine goldene Kutsche hat er nicht. Der drin sitzt, kann Krieg machen und, wenn es das Geschäft so mit sich bringt, Frieden — aber Straußenfedern hat er sich nicht auf den Wagen gesteckt. Er besitzt dein halbes Land, und du siehst es nicht; du weißt es gar nicht. Wahre Macht ist anonym. Wenn sie draußen Steine werfen und irgendwelchen kleinen Übeltäter an die Laterne haben wollen, dann lächelt der drin im Wagen. Er weiß es besser. Ihn kennen nur wenige. Wenn er sehr klug ist, kennen die Zeitungen nicht einmal seinen Namen.
Daher man es denn früher mit den Revolutionen einfacher hatte: die Symbole waren so schön bequem. Ein Kaiserschloß; die Bastille; goldene Kutschen — bitte nur zugreifen. Heute…?

Deutschland, Deutschland über alles.
Ein Bilderbuch von Kurt Tucholsky und vielen Fotografen.
Montiert von John Heartfield. Neuer Deutscher Verlag, Berlin 1929.


Eine Antwort

  1. Hi, I’ve just translated this piece into English – to me it is one of the more powerful pieces Tucholsky wrote, and I get chills whenever I read that last word:

    How dumb they were -!

    In golden coaches like these they drove around; like in fairy tales. Everyone could see right away who was king of the land – everyone was supposed to see. Today it’s completely different.

    The most powerful man sits in a seat of his large automobile, and no one sees him. The automobile is especially elegant, a good make; on its dark door are a few small letters, that is all. The man who sits inside controls perhaps the entire petroleum demand of half the world, but he doesn’t have a golden coach. The man who sits inside can start a war and, if business necessitates, peace – but he hasn’t decorated his car with peacock feathers. He owns half your country, and you don’t see it; you don’t even know it. True power is anonymous. When they’re out there throwing stones and ready to string up some small evildoer on the lantern post, the man in the car smiles. He knows better. Only a few know him. If he’s very clever, the newspapers won’t even know his name.

    That’s why it was easier back then with revolutions: the symbols were so wonderfully convenient. An emperor’s palace; the Bastille; golden coaches – please, help yourself. Today…?

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