[…] diejenigen, die das Didascalicon während der nachfolgenden vier Jahrhunderte tatsächlich benutzten, lasen nicht mehr mit Zunge und Ohr. Sie waren ausgebildet, auf neue Art zu lesen. Die Formen und die Ordnung der Zeichen auf den Seiten waren für sie weniger Auslöser von Klangmustern als sichtbare Symbole für Ideen. Ihre Literalität war »scholastisch« und nicht »monastisch«. Für sie war das Buch nicht mehr Weinberg, Garten oder Landschaft einer abenteuerlichen Pilgerreise. Sie betrachteten das Buch eher als Schatzkammer, Mine, Vorratskammer — als untersuchbaren Text.
Ivan Illich: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand.
Endlich habe ich Illichs Essay zum Schriftbild der Moderne, zu den geistigen Vorraussetzungen für die Typographie und ihre folgende Auswirkungen auf Verhaltensmuster, gelesen. Erschlagen bin ich im Moment davon. Aber schon jetzt, nach dieser ersten Lektüre, kann ich verstehen, warum dieses Buch einigen geradezu als – man verzeihe mir die Wortwahl – als Offenbarung, als Erleuchtung gilt. Es sind weniger seine historischen, seine monastischen, Darstellungen, welche mir zum großen Teil nicht unbekannt waren. Vielmehr entscheidend ist die Art und Weise, wie er sie in Beziehung zueinandersetzt. Eine beeindruckende Darlegung der Tatsache, wie sich uns große, vermeintlich statisch anmutende Gefüge des Geistes letzten Endes ebenso als fluide, veränderbare Dinge gebärden und erweisen. Perspektive.
Außerdem kann ich mich nach der ersten Lektüre nicht des Eindrucks wehren, dass in dieser Wandelbarkeit der Dinge (oder durch die Dinge) im Hintergrund zyklische Intervalle stecken, die in ihrer äußeren Form Entwicklung bedeuten, in ihrem Innersten zugleich doch mehrheitlich geistige Wiederspiele sind, mit jeweils variierenden Vorzeichen.
Ich werde den Weinberg wohl noch einige Male besuchen müssen, um mich da zu entscheiden. Ein wenig melancholisch wurde ich allerdings schon beim ersten Besuch. Nicht, weil Illich allen Anschein nach eine dedizierte und mitunter vernichtende Meinung zu modernen Kommunikationssystemen hatte (und ich mich frage, wie diese zufriedenstellend aufgelöst werden könnte), sondern weil in der Erinnerung an und der allgemeinen Abkehr vom Gedächtnispalast, von dieser so weitführende Erweiterung der mnemorischen Loci-Methode, eine unterschwellige Schwere unweigerlich einhergeht. Ein Verlust, um den es – bei aller Liebe zur Technik (analog wie digital) – schade ist.
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