auch schlafen ist eine form der kritik

Nachweihnachtlicher Frust

Die gar zu besinnlichen Tage sind vorbei. Aus. Ende. Nun darf man auch offiziell wieder den Arsch in sich nach außen kehren, ohne gesellschaftliche hochgezogene Augenbrauen und Kopfschütteln auf sich zu ziehen. Einige Herren und Damen suhlten sich vorhin auf der Bahnfahrt nach Bielefeld denn auch sogleich in der wiederbefreiten Unbesinnlichkeit.

Es braucht nicht viel, um aus nichtigen Angelegenheiten heraus einen Mini-Mob entstehen zu lassen. Man nehme eine Bahn, die schon 10 Minuten Verspätung hat und unterwegs nicht schnurstracks den Bielefelder Hauptbahnhof ansteuern kann, sondern stattdessen einen Umweg über Herford fahren muss. Hätte das der Zugführer vorher geahnt, er hätte wohl nicht die Tür zur Fahrerkabine offengelassen. Das gab einer kuschelig eingehüllten Dame die Gelegenheit, sich zur verbalen Rächerin aufzuschwingen. „Was ist los? Kommen wir heute auch nochmal in Bielefeld an?“ Der Zugführer teilt alles mit, was er weiß: „Ich weiß es leider nicht.“ Falsche Antwort, mein Freund. Die Vorlage kommt der Dame nämlich gerade recht, um ordentlich den eigenen Frust abzulassen und ihn als alleiniges Ziel zu sehen. „Was soll das denn?!“, „Sie wissen es nicht?!“ und zahlreiche ähnliche Sätze folgen. Durch die immer lauter werdende Dame, fühlen sich die anderen Anwesenden bekräftigt und stimmen ebenso lautstark mit ein. Denn plötzlich muss jeder in Bielefeld einen wichtigen ICE Richtung Köln bekommen und überhaupt wird höflich gefragt, was „dieser Scheiß hier soll?“

Der kleine Mob umkreist den überraschenderweise recht ruhigen Zugführer immer enger — wie es eben in einer Bahn möglich ist — und die Dame wächst, wohl aufgrund des Rückhaltes, über sich hinaus. „Der ICE nach Köln soll in Bielefeld gefälligst auf uns warten! Ich will in Bielefeld keine Stunde auf den Nächsten warten!“ ruft sie aus und alle stimmen ein. Hier ist der Punkt, an dem der Lokführer zwar taktisch nicht besonders klug agiert, mir aber ungemein sympathisch wird. Denn er fängt plötzlich an zu Lachen. „Ein Fernzug soll 20 Minuten auf vielleicht 20 Leute warten? Ja… klar.“ Ich rechne damit, dass der erste handgreiflich wird, aber irgendwie nimmt die weiterhin lockere Reaktion des Herrn der frustrierten Kleinmenge den Wind gehörig aus den Segeln. Und so schnell, wie der Mob sich formierte, verflüchtigte er sich wieder. Des gefühlten Rückhaltes beraubt, nimmt auch die Dame mehr Abstand, wird mit der Zeit ruhiger und allmählich formt sich unter den ehemals aggressiven Teilnehmern ein Galgenhumor.

Manchmal ist tatsächlich das Ziel das Ziel und nicht der Weg.


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