auch schlafen ist eine form der kritik

was für Gockel

Die Tage ging ich mit der besserbesten Hälfte frühs noch kurz zum Bäcker. Beim Verlassen des Geschäfts hatte just ein Typ davor sein Auto direkt sowohl auf den Fußweg wie auch auf die Parkverbotsfläche der Straße vor dem abgesenkten Bordstein abgestellt und entfernte sich gerade. Während ich all so um das Hindernis rumgehen musste, packte mich die Genervtheit und ich schaute erst ungläubig die Karre an und dann dem Typen hinterher.

Dieser sah das und brach sofort in wilde Gesten aus. Ich deutete ihm nur mit gehobenem Daumen an, wie fantastisch er hier handelte – prompt stolzierte er einige Meter auf mich zu. Und ich entschied mich in dem Moment… ich weiß nicht, was mich geritten hat, es ihm gleich zu tun. Irgendwann standen wir also 2 Meter voreinander und er „fragte“ mich pseudo-aggressiv und doch auch wie ein ertapptes Kind „Was denn?! Was is?!“; ich fragte, ob seine Bequemlichkeit wichtiger sei, als die Rücksichtnahme auf andere – es war ein eloquenter Austausch differenzierter Ansichten, Meinungen und Problemlösungsansätzen, wie sich der geneigte Leser sicherlich denken können wird.

Genaugenommen – und die besserbeste Hälfte stimmte mir schmunzelnd nach meiner Rückkehr zu – fehlte eigentlich nur ein Sprecher aus dem Off und es hätte eine Tierdoku über das aggressive Balzverhalten kleinkarierter, unausgeglichener Stadtmännchen sein können. Zwei kleine Gockel stolzieren wild gestikulierend und zeternd um sich selbst.

Puh. Also. Direkt im Anschluß hatte ich zwei Erkenntnisse.

  • Menschen, die sich bei Fehlverhalten ertappt fühlen und sofort in aufplusternde Aggressivität verfallen, sind mir automatisch unsympathisch
  • Mein Verhalten war mir quasi sofort unangenehm und peinlich und erst recht vor der besserbesten Hälfte

Und nun mit ein bisschen Abstand, kam noch eine Realisation hinzu.

Es ist nicht so, als wäre ich in Bezug auf das Verhalten meiner Mitmenschen jemals die absolute Ruhe in Person gewesen. Im Gegenteil. Ich wunderte mich, regte mich auf oder war regelmäßig perplex über diverse Verhaltensweisen mir unbekannter Menschen. Quasi seit ich denken kann. Das geschah aber innerlich. Seit einiger Zeit bin ich aber mehr auf offenen Krawall gebürstet, wenn es um so Sachen wie Sicherheit, Miteinander und Rücksichtnahme geht. Und ich weiß nicht genau, wieso und weshalb. Habe aber einige Ideen…

Elternsein

Seit die Motte da ist, muss ich zwangsläufig mehr aus mir raus, affirmativer sein. Allein nur, um ihr zu zeigen, dass Papa „das kann“ oder eben, wie es sich gehört. Wie man auf Menschen zugeht, wie man bestimmt aber höflich miteinander umgeht. So soziokulturelles Zeugs halt. Wenn ich in dem Kontext nun also Verhaltensweisen und Umstände mitbekomme, die mich oder meine Liebsten gefährden können; oder allgemein Verhaltensweisen, die es für alle (und damit auch später für meine Tochter) schwerer im Leben machen, überkommt mich der Drang die Klappe auch aufzumachen. Und ich bekomme sie wohl zugleich auch mehr mit, weil sie nun eben viel relevanter für mich sind. The Aufplusterung is real.

Pandemie

Wahrscheinlich auch kein zu vernachlässigender Umstand? Ich habe seit ein paar Jahren den Eindruck, dass die eh schon hauchdünne zivilisatorische Decke an diversen Stellen noch dünner geworden ist und vor allem das tagtägliche Miteinander darunter zu leiden hat. Alle ein bisschen rücksichtsloser, ich-bezogener und arschiger im Alltag. Dazu gehört dann wohl auch der Umstand, dass ich nun die Klappe häufiger aufmache. Das Pandemie-Ding ging/geht also nicht spurlos an keinem vorbei. Und/Oder es fällt mir verstärkt auf, weil ich nun eine Elterneinheit bin? Oder weil auch ich mich vor Radikalisierung nicht schützen kann? Ach ja…

Radikalisierung

Wenn ich in den letzten Jahren laut geworden bin, dann vor allem als Fußgänger, der genötigt wird, sich Flächen mit Metallungetümen teilen zu müssen. Das Kräfteunverhältnis stößt mir immer übler auf und spiegelt sich im Medienkonsum wieder. Auf Youtube sind beispielsweise sowohl Not Just Bikes als auch DashcamDriversGermany seit Jahren abonniert und werden geschaut. Ersterer Channel haut Videos zur urbanen Städte- und verkehrsplanung mit positiven und negativen Beispielen heraus, während der Dashcam-Kanal der einzige mir bekannte ist, welcher wenigstens versucht ein bisschen Pädagogik ins (Auf)Zeigen dieser Art von Videos einzuimpfen.

Die schaue ich also, weil mich ein dumpfes Empfinden hat hängenbleiben lassen – und im Umkehrschluß übersensibilisieren sie mich für diese Thematik. Ein Teufelskreis. Ich verstehe jetzt zumindest ein bisschen mehr den Effekt von Filterblasen, habe ihn selbst erfahren, ohne es sofort zu bemerken. Denn: dermaßen geeicht, wird’s noch schwieriger manche Dinge nicht (über-?)kritisch im Alltag zu betrachten.

das Selbst

Und schlußendlich – vielleicht auch eher als Kulmination aller obigen Faktoren zu sehen – bin ich nun ein alter Sack, mit allen damit verbundenen Gebrechen, Wehwehchen, einer sehr langsamen, aber stetig steigenden Fuck-It-Attitüde und natürlich mit vielen aufzuarbeitenden persönlichen, charakterlichen und historisch gewachsenen Fehlern. Vielleicht werde ich auch nur laut, weil ich langsam lerne, wichtige Dinge nicht einfach in mir zu versenken, bis sie völlig übergärt wieder nach oben dringen? Das wäre zumindest die positivere Interpretation.

Wie auch immer das alles nun genau miteinander zusammenhängt, würde ich mir wünschen, dass ich irgendwie den Spagat hinbekomme, mich zu melden, wenn es richtig ist und still zu sein, wenn es wirklich unwichtig ist.


2 Antworten

  1. spuckis kaufen, geduldig sein und diebische freude empfinden. 😉
    https://www.umkehr-fuss-online-shop.de/view/productdetails/virtuemart_product_id/3/virtuemart_category_id/1.html

    als nicht-fahranfänger die dashcam-videos schauen ist aber auch bester rage-porn; es lebt sich schöner ohne.

    eine weitere theorie ist, dass sich irgendwann im leben durch steten tropfen oder drastische ereignisse der pool an unschuldiger gutgläubigkeit verfärbt und dann je tages-/monatsform schnell mit hässlicher suppe überschwappt. war bei mir nach x jahren rad-pendeln innerhalb einer großstadt der fall. jeden tag hätte mich da jemand verletzt oder umgenietet, wenn ich nicht aktiv dagegen gehalten habe. irgendwann reicht es dann…

  2. Ich kann dich total gut nachvollziehen. Zum einen finde ich es eine ganz natürliche Reaktion. Wenn keiner jemals gegen dieses Verhalten protestieren würde, würden diese Herrschaften es sich zur Gewohnheit machen.

    Als ich deine Zeilen las, dachte ich: ok, das bin ich, in unserer Strasse. Dauernd bei falsch parkenden Autos die Scheibenwischer hochstellen. Und mir denkend: seit wann bin ich so gehässig? Seit wann bin ich der Piefke von nebenan, der passiv-agressiv bei jedem kleinen Regelverbot den Zeigefinger hochhebt und du-du-du schimpft? Weiss auch nicht. Ich versuch’s locker zu nehmen. An guten Tagen gelingt es mir. Manchmal. Vielleicht werde ich auch einfach alt.

    Jedenfalls: ich fühle mit dir.

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