auch schlafen ist eine form der kritik

Aufschieber warten

Ein neuer Alt-Personalausweis kann nur noch am heutigen Tag beantragt werden. Aus diesem Grunde verweilte ich gestern 1,5 Stunden – während der schönsten Mittagszeit – in der Bürgerberatung. Wie immer, ist man als dem Motto „Besser gerade so, ganz knapp, als zu spät“ unfreiwillig verpflichteter Mensch nie allein. Gemeinsames, überfülltes Warten in der Bürgerberatung also— zumindest ich habe mich gut unterhalten gefühlt.

Es fing schon mit dem Info-Schalter an, dieser sonderbaren Erscheinung. Wartemarken müssen an diesem Schalter – bei einer echten Person und keiner Maschine – abgeholt werden, was in aller Komik dazu führt, dass man für das Anrecht Anstehen/-sitzen zu dürfen… anstehen muss. Loved it. Erkenne sofort deinen Platz in der absurden Hierarchie, zu beratender Bürger. Als würde der mündige Bürger vor einem Elternteil stehen, beichteten alle Herangetretenen sofort und ohne jegliche Aufforderung, weshalb sie es gewagt haben, zur Dame am Schalter zu kommen: „Ich bräuchte einen neuen Personalausweis“, war wohl das häufigste Schuldbekenntnis am gestrigen Tag. Dieses ganze gewöhnliche Prozedere tauchte die Absicht der meisten Anwesenden in wunderhübsche Kontraste. Denn wie mir eine Mitwartende später bereitwillig erklärte, wolle sie noch den alten Perso beantragen, weil der neue „viel mehr über einen verrät, als der alte“. Ich lächelte höflich und verständnisvoll nach außen; assoziativ-belustigt hingegen ins Innere. Gerade während des Wartens rennen die Assoziationen wilder und freier auf der gedanklichen Wiese umher.

Als ich an der Reihe war, warf mein „Wunsch“ nach einer Wartemarke die Dame ein bisschen aus ihrem Konzept. Ich beschloss, mir auf ihre Frage (Warum sind Sie denn hier?) eine existentialistische oder gar resignierte Antwort zu verkneifen und wahrheitsgemäß zu antworten — Um eine Wartemarke zu bekommen. Ich hätte es besser wissen sollen. Wartemarken dürfen wohl nur an Leute ausgehändigt werden, die ordentlich belehrt worden sind. Menschen, die sich zuvor über alle nötigen Utensilien für den Bürgerbesuch informiert haben, stören wohl einfach das allgemeine Konzept und die Erfahrung. Nachdem ich aufgab und seufzend das Stichwort „Personalausweis…“ nannte, konnte ich sie wenigstens in ihren weiteren Ausführungen stoppen. „… ja, ein Passbild habe ich dabei und ja, es kostet 8 Euro, die ich bar bezahlen muss.“ Pause. Ich hatte es zuvor ja oft genug gehört. Sie schnaubte kaum merklich und ich erhielt meine Marke. Ich erspähte einen noch freien Platz außerhalb der designierten Wartezone und ließ mich nieder. Und beobachtete.

Die Schlange vor jenem Schalter, sie glich gestern ihrem tierischen Gegenstück, sofern man sie im Zeitraffer beobachtete: Je nach Aufkommen peitschte sie dann vor und zurück, nach links, nach rechts; sie blieb nie am gleichen Ort, ordnete sich mit jedem weiteren Stück der Kette neu im Chaos. Welch schönes Schauspiel. In Normalzeit erschien sie dagegen fast lethargisch.

Nur vereinzelt wurde der normale Gang von ungeduldigen kostümierten Löwen unterbrochen. Einer derer war oder gab sich dumm, stellte sich mit Abstand neben den Schlangenkopf und versuchte, sein Anliegen sofort per diagonalen Einhaken vorbringen zu dürfen. Die Schlange biss ihm selbst in lethargischer Normalzeit fast den Kopf ab. Dumme – hinten anstellen. Der Löwe fügte sich. Eine besonders wichtige Löwin hielt sich erst gar nicht mit der Prämisse von Dummheit und Unwissen auf, tat es ihrem Vorgänger gleich und ignorierte die Giftattacken der Schlange. Die Schalterdame selbst musste sie auf ihren Platz in der Hierarchie hinweisen, bestand gar darauf. Ich bin selbst Beamtin! knurrte die Löwin selbst dann noch, als sie sich in Anbetracht ihres hoffnungslosen Unterfangens vom Schalter entfernte. Wichtig und weiterhin knurrend stapfte sie dem Ausgang entgegen. Die Schlange wand sich in still-quieksender Genugtuung, bevor sie in Normalität wieder erstarrte.

Die nächste Stunde wartete ich, dachte und beobachtete. Wie unterschiedlich Menschen mit Warten umgehen. Die nervösen, die vollkommen ruhigen, die beobachtenden und die Menschen mit Kleinkindern. Auch Volker Pispers Nummer über die deutsche Begrifflichkeit des Personalausweises streifte mehr als einmal meine Gedanken. Ich entschied, dass ich mich mit einer Identitätskarte auch nicht besser fühlen würde. Als meine Nummer oben im Display nebst einer Schreibtischnummer erschien, machte sich nach all der interessanten und beruhigenden Beobachtung und Reflexion für den Bruchteil einer Sekunde wohlige Panik breit. Manche englischsprachigen Idiome sitzen tief im Bewusstsein.

Auf dem Weg zum mir zugeteilten Schreibtisch entschied ich, meinem Gegenüber keine Auskunft zu versagen, erschreckend zu lächeln und bloß nicht etwas wie eigene Gedanken zu offenbaren. Warterei ist interessant, aber man muss es nicht unbedingt auf einen zweiten Durchlauf ankommen lassen.


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