auch schlafen ist eine form der kritik

Denn Dein ist der Kasten und die Ohnmacht

2 gefaltete Blättchen ziehe ich aus dem Briefkasten.
Das Missionswerk Werne Heukelbach meint mich mit „Enttäuscht, leer, ratlos? Gott gibt dir Hoffnung!“ sowie „Wer ist Jesus?“ retten zu können.
Ich überlege, ob ich meinen Vorsatz, einen Aufkleber für den eigenen Briefkasten zu basteln, nun doch endlich einmal angehen sollte. Die gefühlt tausend Missionare in der näheren Umgebung mit ihren Pamphleten fordern es geradezu. Der Aufkleber (zwangsläufig so groß, dass er noch die jeweils umliegenden Briefkästen vereinnahmen würden – für die Sache!) würde in herrlicher Größe die Lettern prangen lassen:

Hier wohnt ein Gottloser, welcher lediglich beabsichtigt – denn sehet, er ist auch nur ein Mensch – jeglichen Missionsbefehl seiner Umgebung zu negieren. Denn ihm ist noch alle Macht in seinem Geiste gegeben, nicht jedoch auf Erden oder gar im eigenen Briefkasten.
(FY 1, 1 —true story!)

[Jedenfalls so ähnlich. Text ist ja unglaublich variabel, die Endfassung könnte noch mehrmals überarbeitet und auf Deutungsvarianten hin abgeklopft werden.]

Bis es eventuell soweit sein wird, der Aufkleber also aufersteht und auf die Briefkastenscheibe zurückkehren wird (denn gedanklich war er nie fort), schaue ich in die 2 Pamphlete rein und ergötze mich an den zahlreichen Allgemeinplätzen.

Zu keiner Zeit hat es so viele Krisen und soviel Ratlosigkeit gegeben wie heute. Werte, die bisher als zuverlässig und orientierungswert galten, lösen sich immer mehr auf. Viele resignieren und sagen: „Die Welt mit einer hellen Zukunft, wie wir sie uns erträumt haben, gibt es gar nicht. Es ist doch alles so sinnlos.“ Keiner scheint eine Antwort auf dieses Dilemma zu haben.

„Enttäuscht, leer, ratlos? Gott gibt dir Hoffnung!“

Ich schmunzel. „Zu keiner Zeit“ – das schließt für mich auch das ein, was wir gemeinhin als Zukunft umschreiben. Wäre also jetzt, hier, heute, der krisenhafte, ratlose und chaotische Höhepunkt, wie es mir mit diesen Standardphrasen suggeriert werden soll – was bliebe noch an schrecklichen Superlativen für die Endzeit übrig? Panikmache meets Endzeit. Gut, wenn man sich nicht um Logik und Kausalitäten scheren muss, was? Aber „scheint“ ist ja das Signalwort. Also, was wird denn textlich als Antwort vorgeschlagen?

„Eine Studentin erzählt von ihrer jahrelangen Suche nach dem Sinn des Lebens:“

Och. Nö. Da wird die offenbarte Antwort so schön klischeehaft eingeleitet und am Ende gibt es nur einen pseudo-Lebensbericht der Marke „Buh, mein Leben war ohne Sinn. Nur Drogen, Sex und das ganze leere Programm. Bis, ja bis ich Jesus fand“? Bummer.

Na, aber wer ist denn eigentlich dieser Jesus, wenn er gar besser als sinnentleertes Rumficken und Drogen ist? Muss ja eine Größe sein. Nächstes Pamphlet – dein Auftritt. Oder vielmehr: Mal schauen, was ein gewisser Peter Bronclik so über Jesus weiß. Oder zumindest meint, über ihn schreiben zu müssen.

Wer ist Jesus? Einer der vielen Religionsstifter? Ein Moralapostel? Ein Humanist? Ein „guter Mensch“? Oder ein Fantast, der die Welt verändern wollte? Nein! Jesus Christus war und ist einzigartig!

„Wer ist Jesus?“

Wow. Wie schnell man doch „Humanist“, „guter Mensch“ (warum eigentlich die Anführungsstriche?) und „Fantast“ (lies: Idealist) in ihrer Wertigkeit umdrehen bzw. negieren kann. Humanisten und alle anderen Grüppchen dürfen sich hier bestimmt zu Recht auf die Füße getreten fühlen.
Um nun aber den Punkt, dass Jesus der Überflieger, der Overachiever, schlechthin war, noch tiefer und bleibender reinzudrücken, wird proklamiert: „Von keinem anderen Menschen wusste man schon vor seiner Geburt so viele Einzelheiten.“ Stimmt. Ich wusste beispielsweise von meiner Nichte vor ihrer Geburt nur den Namen. Das muss man sich einmal vorstellen – konkret nur ihren Namen und das auch erst kurz vor der Geburt! Und inzwischen bin ich in der Hinsicht auch nicht wirklich schlauer. Aber dieser Jesus, für den gilt, dass sich „alle prophezeiten Einzelheiten erfüllten“ und zwar „haargenau. Nachzulesen in der Bibel, z.B. im Propheten Jesaja.“ Mist. Aber ich lerne daraus und werde sofort niederschreiben, dass der nächste Verwandte des Verfassers ein Kind Gottes sowie selbst Gott sein wird und dessen Taten möglichst wage umschreiben. Wer das dann nicht glaubt, dem halte ich meinen Schrieb unter die Nase. Auf Nummer sicher gehen, vorausschauende Beweisführung, so lautet die Devise. Aber weiter mit Bronclik/Jesus.

„Kein Mensch konnte je so große und herrliche Wunder tun wie Jesus. Er machte Kranke gesund, tat Blinden die Augen auf […]

[Ein tiefes Raunen ist aus einer Ecke zu hören. Es ist das Raunen der Ärzteschaft—]

[…] beherrschte Naturgewalten und weckte Tote auf. Finstere Mächte flohen vor ihm. Nur Jesus konnte sagen: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ (Matthäus 28, 18).

[wiederholtes Raunen aus der Ecke der Ärzte] Ach, das könnte ich auch, wie jeder andere, sagen. Man macht es halt für gewöhnlich schlichtweg nicht so direkt, weil man sonst sofort auf Medikamente und Therapie gesetzt oder wahlweise simultan in die Vorstände mehrerer – wenn nicht gar aller – Konzerne berufen werden würde.
Jesus hatte damit aber wohl in seiner Zeit noch keine Probleme – zumindest vorläufig nicht. Denn warum auch nicht, schließlich ist er Gottes Sohn und „er stellt alle religiösen Führer der Welt in den Schatten.“ Die sich zwischenzeitlich zur Bildung eines raunenden Kanons mit der Ärzteschaft einstimmenden anderen religiösen Führer müssen für den Beweis dieses Allmachtanspruches eben ihre eigenen geheiligten Schriften beiseite legen, die Bibel ergreifen und Markus 9,7 aufschlagen, da steht’s schließlich. Und weiter.

Alle Religionen dieser Welt haben keine Antwort auf die Frage: Wohin mit der Schuld, die uns von Gott trennt?

Da lässt Bronclik dialektisch die Hacken zusammenklacken. Denn er hat ja Recht, auch die anderen können keine Antwort auf solch dringende Schuldfragen liefern. Abgesehen davon, dass sie sich diese Frage nicht derart stellen müssen, weil gerade sie – die anderen abrahamitischen Religionen – das Ding mit der Schuld, der Erbsünde und allem, im Allgemeinen ein bisschen anders sehen. Nämlich bisweilen gar nicht. Daher hat Bronclik Recht: Sie haben keine Antworten.


Ich lege die Pamphlete zur Seite und schmunzel. Immer, wenn ich mit ihrer Dialektik und Rhetorik konfrontiert werde— missionierende Menschen haben für mich stets etwas von Vertretern der Pharmaindustrie. Die versuchen Leute davon zu überzeugen, dass jeglicher Schmerz, jegliches Unwohlsein, einfach jede Form der Abweichung einer suggerierten Norm nicht normal, sondern bekämpfenswert und nur durch Mittelchen xyz zu lindern sei. Und diese Heilsmittel können dies auch vollbringen. Aber nur, wenn man selbst und unabdingbar die suggerierten Wehwehchen annimmt, ihnen Glauben schenkt, sie verinnerlicht. Eine kreislereske Logik eben: Natürlich hilft das Heilmittel, wenn die darauf zugeschnittene evozierte Krankheit als wahr und gegeben angenommen wird. Sowas nennt sich Zirkelschluss.

Um aber nochmals auf den Briefkastenaufkleber zurückzukommen…—


Dogma (Jesus Figure) (©)

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