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Der architektonische Fluß von Einsen und Nullen

Dort, in meiner Geburtsstadt steht seit jeher jenes Haus. An einem Flußufer gelegen, ragt es über alle umstehenden Gebäude hinaus. Auf dem Weg zur Schule, auf dem Weg zur Innenstadt– man muss auf jeden Weg auf jeden Fall daran vorbeikommen, es sei denn, man ist im Begriff die Stadt zu verlassen.

Soweit ich zurückdenken kann, ist jenes Haus Fixpunkt aller Reisen gewesen. Es war schon alt, als ich jung war. Die groß an seiner Front prangenden Ziffern teilen es mit. Versuchen es. 1900. Alt. Bedeutsam sollen sie sein, diese vier Zeichen. Prätentiöse Zeichen, gedacht für jeden, der weder Augen noch Herz oder gar Verstand gebrauchen kann. Geschert haben sie, die Vierziffern, unmittelbar keinen. Als ich jung war, war das Haus schon alt und das sah man ihm auch an. Ziffern waren dafür unnötig. Lange Jahre stand es so – verfallend und verfaulend – am Flußufer. Man sah es und brauchte Zeichen nicht deuten, man roch geradezu seine Geschichte. Wenn man stillstand und verweilte, hörte man — wenn auch von Zeit zu Zeit nur leise — das Echo seiner Erhabenheit.

In den letzten Jahren unternahmen einige Leute den Versuch, das Gebäude zu sanieren. Es wurde soviel an ihm verändert, dass man unter all dem Putz und all der Farbe kaum das alte Skelett hätte ahnen können. Das muss der Grund gewesen sein, weshalb die jeweils aktuellen Bauherren die Notwendigkeit sahen, mit jeder Sanierung, mit jeder neuen Farbschicht, mit jeder neuen Schicht von Isolationsplatten, peinlichst genau darauf zu achten, diese vier Ziffern eins zu eins zu übertragen. Auch wenn sich um das Skelett herum alles änderte, wurde 1900 von jeder untersten, auf die gerade aktuelle Schicht heraufgehievt. Ein Automatismus. Eine Travestie.

Ein paar Jahre sind seitdem vergangen. Ich bin nicht mehr in dieser Stadt, gehe nicht mehr alle Wege, die doch nur an einem Haus entlangführen. Geblieben ist jedoch der Fluß. Ein Fluß von Einsen und Nullen. An seinem Ufer stehen ebenso Gebäude, viele Gebäude, deren Höhe beständig wächst. Auch sie werden von Zeit zu Zeit äußerlich saniert. Auf einigen prangt ebenso an prominentester Stelle, in mehr oder minder großen Zeichen, eine Jahreszahl. Sehe ich ein solches Haus, fällt es mir anschließend ungemein schwerer, es auch zu betreten, ohne dabei ein mulmiges Gefühl zu haben. Ich fühle mich dann unweigerlich an sie erinnert, an die automatische Travestie. Ein leichtes Schmunzeln streift mitunter für kurze Zeit mein Gesicht. Wegen des Versuches, soetwas wie Geschichte, Vergangenheit und Bedeutung mittels Zeichen zu setzen und evozieren zu wollen. Die 1900 schmunzelt auch. Wegen ihnen, den 2002- oder 2004-Fronten. Es ist ein bittersüßes Schmunzeln, während sie selbst ihre Bedeutungslosigkeit im Kontext erkennt.


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