auch schlafen ist eine form der kritik

Gewalt ist Frieden

Es ist wieder so weit, kurz nach 20 Uhr. Die Straßen sind leergefegt, nirgendwo ist unterwegs auch nur eine Seele anzutreffen. Sie sind alle in ihren Wohnungen, sitzen vor den PC-Bildschirmen und warten gespannt. Ich gehe schneller, um sie nicht selbst zu verpassen, die allabendliche Sendung, welche immer um 20:15 Uhr beginnt und meist schon kurz vor Mitternacht endet.

Während ich durch die Straßen eile, denke ich vergnügt an die alten Telenachrichten zurück, die ich heute Mittag im Archiv gefunden habe. Man schrieb das Jahr 2008 und es gab tatsächlich noch öffentliche Räume, die nicht von mindestens einem Dutzend Videokameras im Überblick gehalten wurden. Eine der alten Nachrichten sprach davon, welchen Unwegbarkeiten sich Politiker verschiedenster Gruppierungen ausgesetzt sahen. Es musste tatsächlich langwierig — wenigstens öffentlich — darüber gestritten werden, ob mehr Kameras installiert werden dürften und wie mit den aufgenommenen Bildern zu verfahren sei. Einige waren dafür, ein paar mehr dagegen, die restliche Mehrheit interessierte das alles nicht wirklich. Egal, wie alles ausgegangen wäre, sie hätten sich eben arrangiert. Damals wusste es dieser kleine harte Kern eben einfach noch nicht besser.

Diese ganzen öffentlich geführten Diskussionsrunden waren natürlich nicht sehr ergiebig, denn die meisten der Redner — ganz gleich welcher Meinung, welcher Tendenz oder welcher Unmeinung sie anhängig waren — ahnten, dass sich eine solch grandiose Entwicklung nicht aufhielten ließ. Vielleicht war gerade den sich artikulierenden und augenscheinlich noch mehrheitlichen Gegnern damals schon unbewusst klar, dass sie sich bei derlei Reden keiner großen Rückhalte gewiss seien konnten. Ihre offensive Ablehnung war in Wahrheit schon einer defensiven, kleinlauten Gegenrede gewichen. Was hatten sie denn auch großartig für eine Wahl?

Wo Kameras beobachten und aufnehmen, wird Kriminalität und Verbrechen verhindert, denn Beobachtung hemmt den Menschen — dieses Mantra eines Argumentes war allen verständlich. Und es war einleuchtend. Dagegen konnte nichts wirkungsvolles vorgebracht werden, denn abstrakte und vermeintlich schwer zu greifende Konzepte, wie z.B. die Privatsphäre, waren hierfür nun überhaupt nicht geeignet. In Kurzform der Allgemeinheit einfach zu unverständlich und in vollster Ausführung einfach zu ermüdend. Überhaupt urteilen Menschen nur danach, was sie sehen. In den Telenachrichten des Archivs wurde von einer mehrheitlichen Empörung gesprochen, eine Reaktion auf veröffentlichte Aufnahmen, die eine Gewalttat deutlich zeigten. Das war der belustigende Anfang.

Die Zahl der Kamera-Befürworter nahm im Zuge der öffentlich-gebildeten Meinung stetig zu. Es wurden immer wieder neue Aufnahmen veröffentlicht und die Menge schwankte stärker in ihrer Empörung, ohne sich der anderen Gefühlslage beim Betrachten schon vollends bewusst gewesen zu sein. Die Programme zur Ausbreitung der Kameras wurden vorangetrieben, bis die heutige Situation erreicht war. Anstatt nun jedoch, wie die vorherigen Begründungen es vermuten ließen, das Auftauchen solcher Aufnahmen menschlicher Gewalt zu verringern, wurden es unerwartet immer mehr. Man verstand erst einige Zeit später — nachdem die zahlreichen elektronischen Beobachter zur Normalität wurden — dass ursprüngliche, von Emotionen beeinflußte gewalttätige Handlungen gerade der Normalität bedurften. Wer weiß, dass er beim Verlassen seiner Wohnung auf Schritt und Tritt beobachtet werden kann, ist sich dessen gerade deswegen nicht mehr gewahr. Es klingt paradox, aber so sind wir Menschen nun einmal.

Die Kameras förderten nun das zutage, was seit jeher vorhanden war. Sie brachten sogar dermaßen viel zum Vorschein, dass die Justiz kaum noch nachkam. Anstatt harter Strafen für Prügeleien, wurde die Strafbewertung korrigiert. Was hätte auch zusätzliche Abschreckung noch an den Zuständen geändert? Die Menschen hatten schließlich eindrucksvoll bewiesen, dass die ihnen eigenen Neigungen nicht durch bloße harte Konsequenzen wegkonditioniert werden konnten. Im Gegenteil. Das ist wie bei den Tieren. Engt man sie ein, nimmt ihnen jegliche Rückzugsmöglichkeit, entlädt sich ihre Anspannung in Aggression. Natürlich ist der Mensch kein Tier — wie könnte er auch? — aber irgendwie mussten sich ja die gestiegenen Gewalttaten — auch wenn sie in Anbetracht ihrer schieren Anzahl längst nicht mehr so genannt worden — erklären lassen. Zwischenzeitlich stiegen aufgrund der Kosten für den Betrieb des Systems zusätzliche Firmen ein. Einige aus dem Unterhaltungssektor. Im Vergleich zu früher, konnte man in der Tat eine gestiegene Tolera–

20:16. „Gerade noch geschafft“ denke ich mir, während ich durch die Tür in meine Wohnung stürze und hastig den Bildschirm einschalte. Ich habe zum Glück nur die ersten paar Sekunden der „Clipshow“ verpasst. Ich mache es mir gemütlich und schaue freudig den neuesten Bildern der Kameras zu. Eine kleine Schlägerei zweier Leute im Bahnhof um die Ecke, eine Rängelei im Park um den Platz auf einer Sitzbank und eine Kneipenschlägerei. Es folgen die schon berüchtigten Klassiker der vergangenen Jahre. Massenschlägereien vor dem Stadion beim Training der Manschaft. Herrlich, wie einer der am Boden liegendenen Beteiligten einen kehligen Laut von sich gibt, während ein anderer auf seinem Arm steht. Dieses Geräusch und die Mimik, ich muss darüber jedesmal schmunzeln.

Im Archiv sah ich einmal Sendungen, in denen Leute ihre privat aufgenommenen Videos den Medien zuschickten, welche diese dann zur Belustigung der Allgemeinheit auch zeigten. Das waren wohl meistens niedliche Aktionen von niedlichen Tierchen, kleinere menschliche Missgeschicke oder gleich unsanfte Unfälle. Letztere konnten mir wenigstens noch den Anflug eines Lächelns auf die Lippen zaubern. Der Rest ödete mich fast schon an. Da haben wir es heute schon besser mit der Unterhaltung.

Inzwischen werden die Klassiker wieder für brandneue Videos unterbrochen, bevor eine Liveschaltung des Berliner Bahnhofs folgt. Ich nutze die Zeit und gehe kurz ins Bad. Bei der Liveschalte passiert so gut wie nie etwas, ein paar Schubser, gehässige Worte der Reisenden zueinander und das war’s schon. Uninteressant. Kurz vor Mitternacht endet die „Clipshow“ mit den etwas schlüpfrigeren Aufnahmen, ein Highlight der allabendlichen Unterhaltung.


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