auch schlafen ist eine form der kritik

Gespräche

Ein warmer sonniger Tag. In der Fußgängerzone. Wie immer ein großes Gewusel. Dicht an dicht gedrängt, ist hier eine diffuse Masse entstanden und jeden Moment im Begriff, neu zu entstehen. Ihr Inhalt variabel, ihre äußere Form fließend und doch fest definiert. Einer Amöbe gleich ziehen sich aus ihrem zähen Kern, je nach vorhandener Seitenstraße oder Geschäft, immer wieder Arme vor und zurück; wiederum aus vielen kleineren Amöben gebildet. Ich gehe und stehe immer angespannt am Rand. Wenn ich ganz mutig bin, dringe ich in das Innerste dieser Riesenamöbe vor und sitze stehend dort fließend fest.

Hier fällt er mir auf. Der Punkt im Mittelpunkt der Masse, welcher von eben jener großflächig umgangen wird. Auf dieser Insel befindet sich nur eine Steinbank und auf der sitzt einzig ein alter Herr. Neben sich hat er eine Plastiktüte platziert, von deren Aufdruck ich in der Entfernung nur ein —vi—vit— erkennen kann. Seine Hose und sein Hemd haben schon bessere Tage gesehen, denke ich mir beim zweiten und dritten Blick, aber sie passen zu seinem bärtigen und kantigen Gesicht. Nicht gepflegt, aber auch nicht ungepflegt in seiner Erscheinung. Und so sitzt er neben seiner Plastiktüte und schaut mit einem stillen Lächeln dem Fluss um ihn herum zu. Blickt die heranströmende und sich teilende Masse an, schaut ihr bisweilen hinterher, als würde er Ausschau halten, aber niemand bestimmten suchen. Dieser Gesichtsausdruck dabei, seine gesamte Haltung, fasziniert mich und ich beschließe, mich angestrengt durch die Amöbenmasse hindurch zu kämpfen. Zu ihm.

flickr (cc)

Angekommen, frage ich, ob er etwas dagegen hätte, wenn ich mich zu ihm und seiner Tüte setzen würde. Er sagt nichts, schaut mich freundlich lächelnd an und gibt allein durch seine Augen sein Einverständnis ab. Nachdem ich mich gesetzt habe, entspannt sich mein Körper und ich kann den Inhalt seiner Tüte erkennen: Weinflaschen. Mas Igneus. Er sieht meinen neugierigen Blick und lächelt still in sich hinein, während wir gemeinsam auf der ruhigen Insel inmitten aller Hektik verweilen.

Momente später überwiegt mein Interesse, ich schaue ihn direkt an und versuche ein Gespräch zu beginnen. Schönes Wetter, strömt es aus mir heraus. Noch im gleichen Moment möchte ich jene Töne am liebsten wieder einfangen und herunterschlucken. Ich glaube, bei ihm ein leichtes Nicken auszumachen, bin mir aber nicht sicher. Er ist zumindest höflich, denke ich, während ich überlege, ob ich nicht einfach aus Scham wieder aufstehen und weggehen sollte. Doch so schnell möchte ich nicht aufgeben, so schnell lässt mich das Interesse nicht aufgeben. Wie geht’s so? frage ich also. Die Mutter aller dummen Fragen. Und er presst leicht die roten Lippen zusammen, hebt die Mundwinkel zu einem verschmitzten Lächeln an und wackelt mit dem Kopf von einer Seite zur anderen. Ich sollte ihm dankbar dafür sein. Versuche ich es also ganz direkt. Ich bin… — setze ich an, er unterbricht mich aber. Ich weiß…, spricht er so, als würde er meinen, was er da sagt und schaut mich dabei mit seinen großen dunklen Augen an. Perplex verstumme ich, während er sich wissentlich zurücklehnt, ein In der Tat. Schönes Wetter. Heute. von sich gibt und weiter die Masse beobachtet.

Fast möchte ich ihn in diesem so groß erscheinendem Moment nicht weiter stören, aber sie nagt an mir, die naheliegende Frage. Wider meinem Gefühl stelle ich sie also. Wer sind sie? Und schaue ihn fast schon flehend an. Er scheint kurz zu überlegen, hebt dann die linke Hand und deutet mit dem gestreckten Zeigefinger, dass ich auf eine Antwort besser nicht warten sollte. Vielleicht, denke ich, während ich versuche in seinem Gesicht zu lesen, habe ich auch einfach nur die falsche Frage gewählt. Klar ist für mich jetzt nur, dass das hier einzig seine Insel ist. Grübelnd stehe ich auf und verabschiede mich. Viele Momente, entgegnet er mir mit jenem Gesichtsausdruck, den ich zuvor bei ihm sah. Und ich glaube, ich lächel ihn daraufhin an, auch wenn ich nicht genau weiß, warum.

Mit einem seltsamen Gefühl, einer Mischung aus verworrener Klarheit, entferne ich mich vom Eiland. Es verfliegt, umso weiter ich mich entferne und umso näher ich der umfließenden Masse wieder komme. Betrübt tauche ich kämpfend in sie ein und verlasse diesen Ort.


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